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Blog Organisational Agility

Effectuation – Ein Handlungsansatz für den Sozialbereich?

Als mir zum ersten Mal jemand die Prinzipien von Effectuation vorgestellt hat, war ich ganz begeistert, denn selten habe ich mich in einem Managementansatz so gut wiedergefunden. Dadurch, dass wir im Sozial- und Gesundheitswesen im Bereich Finanzierung auf den Goodwill der öffentlichen Hand (Politik) angewiesen sind und gleichzeitig ständig mit Menschen zu tun haben, die sich in wenig kontrollierbaren Situationen befinden, ist die Steuerung von sozialen Angeboten auf der einen Seite mit sehr viel Ungewissheit auf der anderen Seite aber auch mit einem grossen Handlungsspielraum verbunden. So willkürlich manchmal politische Entscheide sein können, so gut kann man sie, wenn man wach und kreativ ist auch zum Wohl der eigenen Sache nutzen. Ein gutes Beispiel dafür ist meine Fachstelle für Extremismus und Gewaltprävention. Winterthur hatte vor einigen Jahren eine Welle von jungen Jihadreisenden. Das sorgte für grosse Verunsicherung und niemand wusste so genau, was man in einem solchen Fall tun sollte. Für meine Organisation sind solche Jugendphänomene nicht neu, wir haben ein grosses Knowhow im Präventionsbereich und verfügen über ein gut funktionierendes Netzwerk mit Schule, Polizei, Jugendarbeit etc.. Was also lag näher, als dass wir die Bewirtschaftung des Themas zu uns in die Organisation holten. Da ich unser Präventionsangebot schon lange gerne mit einer Gewaltpräventionsstelle ergänzt wollte, dafür aber nie Mittel bekam, war jetzt der geeignete Zeitpunkt mit Hilfe des hohen Handlungsdruckes im Bereich Radikalisierung die Mittel für eine solche Stelle bewilligt zu bekommen. Also versuchte ich mich möglichst schnell in den verwaltungsinternen Entscheidungsprozess einzuklinken, die Idee einer zusätzlichen auf das Thema Radikalisierung spezialisierten Fachstelle an den richtigen Orten zu platzieren, mich fachlich inhaltlich zu positionieren und politisch Lobbyarbeit zu betreiben. Das alles ist mir gelungen und wir haben nun seit 3 Jahren eine schweizweit modellhafte und politisch sehr gut akzeptierte Fachstelle für Extremismus und Gewaltprävention, mit einer deutlichen inhaltlichen Entwicklung weg vom Extremismus hin zur Gewaltprävention.

«Alles, was ich steuernd gestalten kann, brauche ich nicht vorherzusagen. Gestaltbar ist all das, was auf vorhandenen Mitteln basiert und einen leistbaren Verlust aufweist. Gestaltbar ist auch, was durch Zufälle und geänderte Umstände möglich wird und was sich durch Vereinbarungen mit PartnerInnen ergibt.» (www.effectuation.de)

Ein weiteres Beispiel für das Funktionieren von Effectuation ist der Wunsch nach einer zusätzlichen Sozialarbeiterstelle in unserem Suchtbehandlungsangebot. Dies ist notwendig, weil wir immer mehr Patienten mit schwierigen sozialen Fragestellungen rund um IV, Wohnen, Arbeit etc. haben. Im Normalfall werden soziale Fragestellungen im Rahmen des psychotherapeutischen Prozesses behandelt. Für den ganzen Sozialversicherungsbereich braucht es aber immer mehr spezifisches Knowhow, das nicht in eine Psychotherapie gehört. Eine Auslagerung dieser Fragestellungen an einen Profi macht deshalb Sinn. Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, dass die Psychotherapeuten dann alle sozialen Fragestellungen auslagern, was wiederum nicht in unserem Sinne wäre. Welches Profil also braucht eine solche Sozialarbeiterstelle. Wie wird sie sinnvollerweise genutzt, wie hoch ist der Bedarf wirklich, wieviel Stellenprozente brauchen wir, was passiert mit dem Therapeutischen Angebot, wie stellen wir eine fachliche Einbindung dieser tiefprozentigen Solostelle sicher? Viele Unklarheiten, die sich nicht auf der grünen Wiese beantworten lassen. Ein klarer Fall für Effectuation. Weshalb möchte ich im Folgenden kurz an den 4 Effectuation-Prinzipien aufzeigen:

1. Mittelorientierung statt Zielorientierung

Meine Hauptabteilung ist im gleichen Bereich angesiedelt wie die gesetzliche Sozialhilfe. In der gesetzlichen Sozialhilfe arbeiten viele erfahrene Sozialarbeiterinnen, die sich immer mal wieder beklagen, dass sie eine zu hohe Falllast haben und wenig direkte Sozialarbeit machen können. Wie wäre es also, wenn wir mal eine solche Sozialarbeiterin für zwei Halbtage ausleihen würden. Das hätte den Vorteil, dass wir niemanden anstellen müssten, ausprobieren könnten und sich gleichzeitig der Knowhowtransfer in der Gesamtorganisation verbessern würde.

2. Leistbarer Verlust statt erwarteter Ertrag

In dem wir eine Sozialarbeiterin aus dem Sozialhilfebereich der gleichen Organisation ausleihen, können wir mit einem Arbeitspensum von 20% starten. Müssten wir die Stelle offiziell neu besetzen, wäre ein so tiefes Arbeitspensum nicht sinnvoll zumal die Mitarbeiterin dann auch fachlich bei uns nirgends angebunden wäre. Auch zeitlich ist eine Mitarbeiterin, die daneben noch ein weiteres Arbeitspensum bei der gleichen Organisation hat, flexibler. Diese Lösung gibt uns also die Möglichkeit mit relativ wenig finanziellem Aufwand einmal zu testen, welche Auswirkungen die Schaffung einer Sozialarbeiterstelle hat. Das Experiment kann nach der vereinbarten Befristung des Arbeitseinsatzes bei uns auch wieder beendet, respektive aufgrund der gesammelten Erfahrungen dann definitiv installiert werden.

3. Umstände und Zufälle nutzen statt vermeiden

Weshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt um mit so einem Experiment zu starten? Wir haben in der letzten Geschäftsleitungsklausur entschieden, dass die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Hauptabteilungen ein zentrales Ziel der nächsten zwei Jahre sein wird. Die Sozialhilfe hat zudem eine grosse Reo hinter sich. Sie konnte mit zusätzlichen Stellenaufstockungen die Falllast deutlich senken und hat dadurch wieder mehr Kapazitäten für Zusatzaufgaben. Also der genau richtige Moment um die Sozialhilfe und meinen Chef für eine solche hauptabteilungsübergreifende Zusammenarbeit zu gewinnen. Vor einem Jahr wäre das noch nicht möglich gewesen.

4. Partnerschaften statt Konkurrenz

In unserem Fall macht es wenig Sinn innerhalb der gleichen Organisation noch einmal sozialarbeiterisches Knowhow aufzubauen, wenn es doch schon so qualitativ hochstehend vorhanden ist und wir es einfach nutzen könnten. Selbstverständlich sind wir dann etwas stärker abhängig von unseren Kollegen der Sozialhilfe, wir haben dafür aber neu eine Vermittlerin, die unser Fachwissen, unsere Vorgehensweisen und unsere Haltungen suchtkranken Menschen gegenüber in die Sozialhilfe hinein tragen kann und somit vielleicht einen ersten Grundstein dafür legt, dass tatsächlich mehr alkohol- und drogenkonsumierende Sozialhilfebezüger den Weg zu uns in die Behandlung finden.

Ich persönlich bin wie gesagt überzeugt vom Effectuation Ansatz. Es ist meiner Erfahrung nach viel Effektiver durch gute Vernetzung und offene Ohren, Gelegenheiten, die sich bieten wahrzunehmen und «Gutes» daraus zu machen, als irgendwelche Konzepte zu schreiben, die sich dann nicht umsetzen lassen.